«Sich als Ruderer neu erfinden»

«Sich als Ruderer neu erfinden»

Artikel - «Sich als Ruderer neu erfinden»

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Ein Wechsel von den Leichtgewichten in die offene Klasse birgt Chancen, aber auch einige Risiken. Welches sind die Erfolgsfaktoren?

SWISS ROWING befragte verschiedene Athleten, die mitten im Wechsel stecken. Auskunft gab zudem ein Ruderer, der inzwischen auch in der offenen Klasse Erfolge feiert und einer, dessen Wechsel nicht von Erfolg gekrönt war.

Die Gründe für einen Wechsel in die offene Gewichtsklasse sind vielfältig. Mit dem neuen Olympiaprogramm für Tokio 2020 wurde die Zahl der «Wechselwilligen» zusätzlich befeuert. Einige Ruderinnen und Ruderer rechnen sich bei den «Schweren» grössere Chancen auf einen Sitzplatz in einem Olympiaboot aus. Für andere sind gesundheitliche Gründe ausschlaggebend. Eines ist aber klar: Mit etwas mehr Essen ist es nicht getan. 

Sechs Rippenverletzungen in den letzten drei Jahren

Michael Schmid, Europameister und WM-Zweiter 2018 im Leichtgewichtseiner, machte seine zunehmende Verletzungsanfälligkeit zu schaffen. «Mich quälen immer wieder Rippenverletzungen, die auf Überlastung zurückzuführen sind», erklärt er. «Das tiefe Gewicht ist da ein Risikofaktor und es zu halten kam stets einer Gratwanderung gleich.» 2018 war Schmids erfolgreichste Saison «ever», in welcher er nie schlechter als Zweiter war. Der 30-jährige Luzerner setzte mit seinen Resultaten einen perfekten Schlusspunkt hinter seine Karriere als Leichtgewichtsruderer. Noch vor der Siegerehrung an der Ruder-WM in Plovdiv teilte er den versammelten Journalisten mit, umgehend den Wechsel in die offene Gewichtsklasse in Angriff zu nehmen. Seither steckt Michael Schmid mitten in einer Metamorphose. 

«Aktuell liegt mein Gewicht bei 82-83 kg», sagt er nicht ohne Stolz und fügt lachend hinzu: «Zum Saisonstart sollte dies auch mein Kampfgewicht sein, einfach in weiter optimierter Körperzusammensetzung.» Im Bereich Ernährung arbeitet er seit vielen Jahren mit Christof Mannhart zusammen. «Bisher ging es immer ums Abnehmen. Jetzt konnten wir das Ganze zum ersten Mal umdrehen und schauen, wie ich am besten Muskelmasse zunehmen kann.» Zusätzliche Eiweissmahlzeiten um 10.00, 15.00 und 21.30 Uhr sind nun Teil seines neuen Tagesablaufs. Dazu gehören aber auch wöchentlich sechs Einheiten im Kraftraum unter Aufsicht von SRV-Athletiktrainer James Goodwin. Inzwischen sind viele seiner Kleider zu eng geworden. «Ich musste auf Einkaufstour.» Wie sich sein Ruderkörper an die neue Ausgangslage gewöhnen wird, ist ein laufender Prozess und noch nicht absehbar. «Ich bin recht zuversichtlich.» 

Ein langer Prozess braucht viel Geduld 

Während einiger Jahre war der Deutsche Lars Hartig ein hartnäckiger Konkurrent von Michael Schmid. 2014 gewann er an der WM in Amsterdam die Silbermedaille im Leichtgewichtseiner, während Michael Schmid Bronze holte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der heute 29-Jährige bereits zwei Jahre lang über den Gewichtswechsel nachgedacht. «Das Gewicht zu machen fiel mir psychisch und physisch immer schwerer.» Und plötzlich war da ein Schlüsselerlebnis: «Es war der Abend vor einem Weltcupeinsatz. Ich war dick angezogen am Laufen und abschwitzen. Plötzlich fühlte ich so eine Art Hitzestau. Alles war mir zu eng, ich kriegte kaum Luft. Ich riss mir die Kleider auf und zog so viele Schichten wie möglich aus. Mir wurde übel. Da wusste ich, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.» An Gewicht zuzulegen fiel dem 190cm grossen Ruderer in einer ersten Phase leicht. «Denn mein normales Gewicht liegt grundsätzlich um einiges höher.» Was sich zudem rasch einstellte: «Ein Gefühl von Befreiung.» 

Sein Wechsel sollte sich aber als hürdenreich herausstellen. Nachdem Lars Hartig 80 kg erreicht hatte, stagnierte sein Gewicht. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit wurde er krank. «Mein Körper war überfordert und musste sich erst an die neue Situation gewöhnen.» Erst später konnte er weiter an Muskelmasse zulegen und kommt heute auf rund 88 kg Kampfgewicht. Krafttraining wurde und ist noch heute ein wichtiger Bestandteil seines Trainings. «Als Leichtgewicht mied ich den Kraftkeller, weil ich schon zum Vornherein wusste, dass ich jedes zusätzliche Kilo irgendwo anders wieder herunterbringen musste.» 

Niemand hatte Lars Hartig vorgewarnt, dass er als Schwergewicht seinen Ruderstil komplett neu erlernen müssen würde. «Mit 15 kg mehr am Körper bewegt sich das Boot komplett anders durchs Wasser», betont Lars Hartig. Alles in allem: «Ich musste mich als Ruderer neu erfinden.» Die Saison 2017 liess er aus. Erst im Winter 2017/2018 spürte er, dass alles wieder zusammenpasst. «Als Timo Piontek und ich im Männer-Doppelzweier beim ersten Weltcup in Belgrad im letzten Frühling auf dem Podest standen, wusste ich, dass ich wieder da bin.» Seine Geduld und sein Mut zahlten sich aus.  

Wenn die Gewichtszunahme nicht gelingt

Der Wunsch von Olympiasieger Mario Gyr, in der offenen Klasse ebenso grosse Erfolge feiern zu dürfen wie als Leichtgewicht, sollte nicht in Erfüllung gehen. Zwei Jahre nach seinem Olympiasieg im leichten Vierer-ohne gab Mario Gyr 2018 sein Comeback in der offenen Klasse. Sein Körper scheint sich jedoch ohne zusätzliche Masse wohler zu fühlen. Da halfen auch Proteinshakes und Kohlenhydrate nichts. «Ich bin schon über 30 Jahre alt. Meine Körperform konnte ich nicht mehr gross verändern. Zudem war ich nie ein muskulöser Athlet, sondern bin grundsätzlich der Ausdauertyp.» 

Die WM-Teilnahme in Plovdiv im Zweier-ohne öffnete Mario Gyr die Augen. «Ohne die Aggressivität, die sich bei mir jeweils durch das Gewichtmachen einstellte, fehlte mir etwas», schaut er zurück. «Ich musste mich beim Einrudern regelrecht hochpushen.» Da nützte es auch nicht, dass der begnadete Ruderer ein Boot meisterhaft zum Laufen bringen kann und den Schlag angibt wie ein Metronom. Ein wichtiges Element fehlte: die Wucht der Masse. «Heute trainiere ich etwa fünf Mal pro Woche und widme mich meiner beruflichen Zukunft.» Inzwischen arbeitet der Jurist für eine Schweizer Grossbank. 

Rückschläge wegstecken

Mit Mario Gyr im Zweier-ohne sass an der WM der 24-jährige Joel Schürch, der ebenfalls einen Gewichtswechsel hinter sich hat. «Als der leichte Vierer-ohne aus dem Olympiaprogramm gestrichen wurde, stand mein Entschluss fest.» Immer wieder durch das Pfeiffersche Drüsenfieber geschwächt, verlief seine Gewichtszunahme nicht ganz ohne Hindernisse. Trotzdem qualifizierte er sich nicht nur für die WM in Plovdiv Mitte September, sondern ruderte bereits im August im Vierer-ohne an der EM in Glasgow. 

Viele Leichtgewichtsruderer beneiden ihre schweren Ruderkollegen am Esstisch um die grösseren Portionen. Joel Schürch indessen leidet unter Appetitmangel, was der Gewichtszunahme nicht dienlich ist. «Ich muss mich jeden Tag dazu ermahnen, zu viel zu essen. Noch heute muss ich eigentlich über meinen Hunger essen.» Sein Gewicht liegt aktuell bei 88 kg, ein bis zwei Kilos mehr dürften es noch werden. «Schön dabei ist, wie ich die Fortschritte im Kraftraum beobachten kann.»

Ein Gewichtswechsel eröffnet neue Chancen

Mitten in der Spitzensport-RS stecken Fabienne Schweizer und Pascal Ryser. Beide sind «neue» Schwergewichte. Während Pascal Ryser seit einem halben Jahr an Gewicht zulegt, hat Fabienne Schweizer den Wechsel bereits vollzogen. «Als Ruderin in der offenen Klasse habe ich mehr Startmöglichkeiten. Zudem war die Chance grösser, einen Platz in der Spitzensport-RS zu erhalten», erklärt Fabienne Schweizer. Als Leichtgewicht das Gewicht zu halten empfand sie zunehmend als Belastung. «Ich analysierte jeweils die Lebensmittelbeschreibungen», gibt sie zu. «Die Umstellung im Umgang mit dem Essen brauchte nach dem Wechsel in die offene Kategorie etwas Zeit.» Für Frauen ist das Gewicht oftmals ohnehin ein Tabuthema. «Wenn man plötzlich 6-7 kg schwerer ist, fühlt man sich wie ein Walross.» Dafür spürt die 21-jährige Ruderin mehr Energie im Training. «Ich bin jetzt belastbarer und arbeite auf den nächsten Entwicklungsschritt hin.» 

Spitzensport-Rekrut Ryser hat inzwischen ein Gewicht von 83 kg erreicht. An der U23-EM im letzten August in Brest musste er kurzfristig als Ersatz bei den Schweren einspringen. Danach setzte beim 21-Jährigen ein Umdenken ein. «Ich spürte bei meinem spontanen Einsatz im schweren Doppelvierer, wie wohl ich mich im Vierer fühle.» Begleitet wird seine Gewichtszunahme im Rahmen der Spitzensport-RS durch die Ernährungsberatung im Nationalen Sportzentrum Magglingen. Genau wie Fabienne Schweizer kann Pascal Ryser in der kommenden Saison noch an Wettkämpfen der Kategorie U23 teilnehmen. «So erhalte ich die Gelegenheit, einen sauberen Aufbau zu machen und den Anschluss an die Elite zu schaffen.» 

Der Wechsel von den Leichtgewichten in die offene Klasse ist also hindernisreicher als man denken könnte. Der Fokus liegt nicht einzig auf der Nahrungsaufnahme. Es gilt zu berücksichtigen, dass der Körper Zeit für die Anpassung benötigt und sich auch nimmt. 

So verschieden die Wege der Ruderinnen und Ruderer sind, es geht im Rudern stets darum, sein volles Potenzial auszuschöpfen. Erfolgsfaktoren finden sich in beiden Gewichtsklassen. Denn die perfekte Harmonie von Körper, Geist, Rhythmus, Ausdauer, Wille und Disziplin machen den Rudersport einzigartig und perfekt – unabhängig vom Gewicht. 

(vdg/01.02.2019)