«Olympiazyklus um ein Jahr verlängert, aber die Gesundheit geht vor»

«Olympiazyklus um ein Jahr verlängert, aber die Gesundheit geht vor»

Artikel - «Olympiazyklus um ein Jahr verlängert, aber die Gesundheit geht vor»

Seit dem 24.03.2020, ist klar: Die Olympischen Spiele in Tokio finden frühestens 2021 statt. Verbandsdirektor Christian Stofer über die vergangenen hektischen Wochen, die allgemeine Situation für den Schweizer Rudersport sowie über die nächsten Schritte.

Christian Stofer, was war die erste Reaktion beim Verband SWISS ROWING, als das IOC die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio um ein Jahr bekanntgab? 

Ich habe zuerst die Originalkommunikation des IOC gelesen, um zu verstehen, was genau entschieden wurde. Danach habe ich mich mit Headcoach Edouard Blanc beraten und ein erstes kurzes Brainstorming für das weitere Vorgehen durchgeführt. Für mich persönlich war es aufgrund der weltweiten Lage in den letzten Tagen absehbar, dass die Olympischen Spiele nicht im Juli 2020 starten konnten, auch wenn ich die IOC-Mitteilung nicht schon am Dienstag erwartet hatte. Einerseits war es in diesen «Wochen des Virus» eine Erleichterung, andererseits öffnen sich natürlich ganz neue Fragestellungen. Die Verlängerung des Olympiazyklus um ein Jahr ist nicht einfach nur ein Jahr. Es durchkreuzt die Lebenspläne von Athleten und Staff zum Teil stark. 

Was bedeutet die Verschiebung für die Schweizer Boote, sowohl für die bereits qualifizierten drei Boote als auch für den Zweier-ohne oder die zwei Doppelzweier der Leichtgewichtsklasse, die sich noch über die finale Qualifikationsregatta einen Startplatz erkämpfen möchten?

Es erhalten nun alle Ruderinnen, Ruderer, das Trainerteam und auch ich etwas Zeit zum Durchatmen. Einerseits ist da eine Leere, weil das ultimative Vierjahresziel ins 2021 verschoben wird, andererseits eröffnen sich neue Chancen. Ich denke, dass jede Ruderin und jeder Athlet zuerst für sich beantworten muss, ob er/sie bereit ist, den Aufwand für mindestens eine weitere Saison zu leisten. Ich gehe davon aus, dass für die noch nicht-qualifizierten Boote eine neue internationale Selektionsregatta angesetzt wird und sie Quotenplätze wieder im sportlichen Vergleich herausrudern müssen. Wir werden zeitnah mit den Athletinnen und Athleten erste Gespräche führen.   

Blenden wir zurück. Wann genau wurde den Verantwortlichen bei SWISS ROWING bewusst, dass das Coronavirus einen derartigen Einfluss auf die Rudersaison nehmen könnte?

Das Coronavirus war Anfang Jahr weit weg in China. Wir folgten den News, wurden aber schon auf dem linken Bein erwischt, wenn man die letzten vier Wochen rückblickend betrachtet. Die Elite-Nationalmannschaft reiste am 22. Februar 2020 aus einem Trainingslager in Gavirate (I) zurück. Am gleichen Tag trafen die ersten Meldungen über Corona-Fälle in der Lombardei ein. Am 26. Februar 2020 hatte ich das erste ausserplanmässige Meeting betreffend die weitere Entwicklung der Situation, da die Elite-Trials in Corgeno (I) sowie das Trainingslager Varese (I) plötzlich in Gefahr gerieten. Wir haben da in den letzten Wochen eine steile Lernkurve durchgemacht. 

Die Trials, die Ausscheidungsrennen für die Bootsbesetzungen 2020, waren für die Schweizer Nationalkader ein erster Höhepunkt. Nach dem Ausbruch des Coronavirus in Norditalien waren die geplanten Tests in Corgeno plötzlich ein «No Go». Wie kam der Verband auf die Alternative in München?

Es wurde sehr schnell klar, dass wir Trials nur auf einer Infrastruktur mit einem Albanosystem, also mit rennmässig verlegten Bahnen durchführen können. Aufgrund der Entwicklung mit dem Coronavirus hatten wir alternative Regattaplätze, für welche eine Flugreise notwendig gewesen wäre, relativ früh ausgeschlossen. Damit war München schnell favorisiert und wir hatten Glück, dass uns die Verwaltung der Regattastrecke die gewünschten exklusiven Zeitfenster für die Trials-Rennen zusichern konnte. 

Genau am Trial-Wochenende beschloss die deutsche Regierung, die Grenze zur Schweiz zu schliessen. Wie verlief die Heimreise respektive die Einreise in die Schweiz?

Wir konnten die Trials am 16. März 2020 abschliessen und dann zurückreisen. Die Entscheide der deutschen Regierung betrafen ja die Einreise nach Deutschland und wir waren in der Gegenrichtung unterwegs. Die Einreise in die Schweiz verlief problemlos. Doch während der Rückreise verkündete der Bundesrat die «ausserordentliche Lage». Somit mussten wir am Montagabend die Lage erneut beurteilen und das gesamte Elite-Nationalteam in Sarnen mit einem Ruder-Ergometer für das weitere individuelle Training ausrüsten. Denn der bundesrätliche Entscheid schuf dahingehend Klarheit, dass im Ruderzentrum Sarnen bis auf weiteres keine Kadertrainings stattfinden dürfen. 

Seitdem der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» deklariert hat, erfolgten praktisch täglich Planänderungen. Die Ruderinnen und Ruderer begaben sich in Selbstquarantäne für ein isoliertes Trainingslager im Centro Sportivo in Tenero. Nach der Verschiebung der Olympischen Spiele wurde dieses Trainingslager gestrichen. Wie geht es weiter?

In der Tat haben wir alles unternommen, um den Athletinnen und Athleten aus dem Elitekader wieder eine Möglichkeit zu verschaffen, Training auf dem Wasser zu absolvieren. Wir sind dem Bundesamt für Sport BASPO und Swiss Olympic sehr dankbar, dass wir in Tenero hätten trainieren dürfen unter strengsten Auflagen. Der IOC-Entscheid führte abermals dazu, dass wir die Lage neu beurteilen mussten. Wir werden jetzt zuerst mal mit den Athletinnen und Athleten Kontakt aufnehmen, um ihre aktuelle Befindlichkeit zu spüren und die Fragen, die sich für die Athleten nun stellen, aufnehmen. Neu planen können wir noch nicht. Es ist sicher zuerst eine Phase der Dekompression notwendig für die Athleten. Es war wirklich sehr viel in den letzten Tagen und Wochen. Ich bin stolz auf die Mitglieder des Elite-Kaders. Es sind alles junge Ruderinnen und Ruderer, die vollstes Commitment für ihr Ziel «Tokio 2020» haben. Sie können nun durchatmen, sollen jetzt ihre Gedanken sortieren können und müssen vor allem fit und gesund bleiben.  

Noch nicht abgesagt ist die Europameisterschaft Anfang Juni in Poznan, Polen. Auch von der Kombi-WM von U23 und nicht olympischen Disziplinen in Bled (Slowenien) spricht noch niemand. Rechnet der Verband mit der Durchführung?

Wir sind in engem Kontakt mit dem Internationalen Ruderverband FISA und wissen, dass die Mitarbeitenden der FISA ebenfalls auf allen Ebenen stark gefordert sind und die Lage in den verschiedenen Ländern mit den Organisationskomitees und den Verbänden besprechen. Es sitzen alle im gleichen Boot, alle sind in der Planungsunsicherheit vereint. 

Auch auf Stufe U23, Junioren und auf nationaler Ebene ist aktuell kein gemeinsames Training möglich. Welche Rückmeldungen gibt es von dieser Seite? 

Die Veränderungen für die Nachwuchsathletinnen und –athleten sind gross: die Schulen geschlossen, die Ruderclubs geschlossen, individuelles Training zu Hause auf unbestimmte Zeit. Und die Leistungstests für die Nachwuchskader waren noch nicht abgeschlossen. Wir versuchen mit Trainingsprogrammen und Übungen, die zu Hause gemacht werden können, die Athleten/-innen zu unterstützen. So führen das U19- und das U23-Kader beispielsweise anstelle des dritten Langstreckentests eine virtuelle 5000m-Ergometer-Challenge durch. Alle bei sich zu Hause auf dem Ergometer und schicken dann ein Foto des Displays auf die eingerichteten Kader-Whatsapp-Gruppen. Es gibt da auch Preise zu gewinnen. 

Der nationale Regattakalender wird ebenfalls ausgedünnt. Nachdem bereits die Saisoneröffnungsregatta auf dem Lauerzersee abgesagt wurde, haben auch die Organisatoren der Regatten Schmerikon, Cham und Sarnersee ihre Anlässe für 2020 gestrichen. 

Das ist in der Tat bitter. Die Regattaorganisatoren der grossen nationalen Regatten haben sich zusammen mit SWISS ROWING besprochen und die Lage analysiert. Die Organisation einer nationalen Regatta ist eine grosse Operation. Und die Veranstalter tragen eine grosse Verantwortung. Bewilligungen müssen eingeholt, Bestellungen von Material und Dienstleistungen spätestens jetzt im Frühling ausgelöst werden. Die Sicherheit und Gesundheit der Teilnehmenden, der Volunteers, der Zuschauer und von allen weiteren Akteuren einer Ruderregatta ist das oberste Gebot. Beurteilt man die Lage, so ist es nicht erstaunlich, dass sich auch unsere nationalen Regatten in die lange Liste von abgesagten Veranstaltungen einreihen. SWISS ROWING braucht auch in Zukunft starke und leistungsfähige Regatta-Komitees für die Organisation der nationalen Regatten. Daher können wir die Absagen nachvollziehen und unterstützen. 

Und wie steht es um die Schweizer Meisterschaft 2020?

Es ist noch zu früh, um hier eine konkrete Ansage machen zu können. Wir müssen die Lage weiter beobachten. Der Vorstand von SWISS ROWING, der Chef Regattawesen und ich werden uns nach Kräften einsetzen, damit wir nach Möglichkeit eine Schweizer Meisterschaft 2020 durchführen können. Durch die Absage der internationalen Regatten auf dem Rotsee, insbesondere der LUCERNE REGATTA als Traditionsanlass, besteht aufgrund wegfallender Doppelnutzung der Infrastruktur auch betreffend Durchführungstermin aus heutiger Sicht etwas mehr Flexibilität. 

Ist es nicht frustrierend, dass der Sport seine Rolle aktuell nicht in gewohntem Umfang wahrnehmen kann?

Nein, auch wenn es gewöhnungsbedürftig ist. Der Sport hat aktuell in Anbetracht der grossen Herausforderungen nicht erste Priorität. Der Rudersport und der gesamte Sport erfahren in normalen Zeiten immer wieder die Solidarität der Bevölkerung, von Unternehmungen, Fans und der öffentlichen Hand. Nun wurden die Vorzeichen getauscht. Der Bundesrat in Vertretung der Gesellschaft fordert die Solidarität der Bevölkerung, also auch der Sportlerinnen und Sportler, um die weitere Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen. Es ist eine eindrückliche Aufgabe. Wenn es uns durch unser adaptives Verhalten gelingt, diese Krise zu meistern, so wird die Solidarität auch dem Sport in Zukunft wieder gewiss sein. 

SWISS ROWING bittet alle Ruderinnen und Ruderer sowie Sportinteressierte, die Verhaltensregeln des Bundesrats und des Bundesamts für Gesundheit zu befolgen. Hier geht es zur Website des BAG

27.03.2020 / Das Interview führte Jolanda van de Graaf